Nimmeliweiss

Nimmeliweiss heisst das Weideland zwischen dem vorderen und dem hinteren Bach zuhinterst in der Schneiti. Dieses Fleckchen Erde war schon eine Herzensangelegenheit von Christina Gerber-Schumacher (1898 – 1997) und war es auch von Theodor Gerber (1928 – 2019). Bereits in den frühen Achtzigerjahren wurden im Nimmeliweiss die ersten Arven gepflanzt. Die Bäume entwickelten sich dank den guten klimatischen Bedingungen prächtig. Theodor Gerber widmete allen seinen Grosskindern eine mit ihren Namen beschriftete Arve und ein kleines Arvenwäldchen erinnert an die Liebe zu seiner früh verstorbenen Anne Gerber-Himmel (1930 – 2005).

Gegenwärtig beschränkt sich die Arbeit auf den Schutz der bestehenden Arven vor den im Sommer weidenden Kühen, Ziegen und dem Wildverbiss.

Wie das Nimmeliweiss zu seinem Namen kam

Von Theodor Gerber

Früher hiess das Gut zuhinterst in der Schneiti zwischen dem vorderen und hinteren Bach Muntalawazza. Es gehörte dem Schuhmacher, der zu unterst in der Schneiti, in der Alpen, wohnte und eine einzige Kuh, die schöne Biina, besass. Von seiner Hofstatt stand noch bis vor 100 Jahren die Brandmauer mit dem Kamin. Ausser dem Jüngsten gingen alle Kinder zur Schule. Da es damals keinen Kindergarten gab, schickte der Vater sein Söhnchen auf die Weide ins Muntalawazza.

In Areua oder Val Curciusa hauste ein grimmiger Ritter, ein Abkömmling der Herren von Sax – Misogg. Diese hatten ihn wegen seiner Bosheit ins Val Curciusa verbannt. Dort trieb er sein Unwesen weiter, ritt öfter auf dem Areuaweg gegen Nufenen hinaus, um Vieh zu stehlen. Deshalb schärfte der Schumacher seinem Söhnchen ein, immer wieder den Areuaweg ennet dem Areuabach zu beobachten und sofort mit der Kuh heimzukommen, wenn er den Ritter auf seinem Ross nur schon von weitem sähe.

Als der Knabe nun seine Biina in Muntalawazza hütete, schlug das Wetter um. Es begann zu regnen. Der Ritter hatte den Wetterumschlag vorausgesehen. Er trachtete danach, bei dieser günstigen Gelegenheit die Biina, auf die er schon lange ein Auge gerichtet hatte, zu stehlen. Er ritt auf dem Areuaweg nur so weit nach vorn, als man ihn von Muntalawazza aus noch nicht sehen konnte. Dann stieg er sachte hinunter zum Areuabach, wo die Lawine vom hinteren Tobel im Frühjahr niedergedonnert war, und wo der Areuabach den Schneekegel unterhöhlt hatte, sodass eine Brücke entstanden war. Die Nufner fürchteten sich, darüber zu gehen, aus Angst, durchzubrechen und im reissenden Wasser zu ertrinken.

Vorsichtig betrat der Ritter mit seinem Ross die Schneebrücke. Sie hielt. Drüben stieg er zum Ahornbaum hinauf, den man auch heute noch sehen kann. Dann galoppierte er der Biina entgegen. Zum Fliehen war es zu spät. Der Räuber stieg vom Pferd, band einen Strick um den Hals der Kuh, sprang wieder auf, die Biina hinter sich wegziehend. Der Knabe hing sich verzweifelt um deren Hals. Er rief vergeblich um Hilfe. Der Ritter schlug nur umso heftiger mit seinem Peitschenstock auf den armen Knirps nieder.

Nun goss es in Strömen. Ein greller Blitz schlug knapp vor dem Räuber in den Boden. Er blendete ihn so sehr, dass er nichts mehr sehen konnte, während dem Knaben, der sein Gesicht gegen den Hals des Tieres gedrückt hatte, nichts passiert war. Der Bub war nur benommen vom ungeheuren Donnerschlag. Der geblendete Ritter, seinerseits nun hilflos, rief: „Dove la stalla, la stalla, dove la stalla!“ Ein zweiter Blitz ging vor der Gruppe nieder. Verzweifelt hielt sich der Reiter die Hände vor das Gesicht. Der Strick entglitt ihm. Das Kind ergriff diesen sofort. Die Kuh folgte ihm schnell in Richtung des schützenden Stalls. Der noch fast blinde Mann hatte inzwischen ein paar Schritte in die falsche Richtung getan. Er war nun zu weit unten, dort, wo der riesige Felsblock liegt, den man auch heute noch sehen kann. Er vermeinte, dies sei der Stall, bis er ganz in der Nähe des kubischen Felsens war. Jetzt ergriff ihn grosse Furcht, denn sein Aberglaube täuschte ihm Zauberei vor. Nur weg von hier! Mit Not fand er den Ahornbaum. Erleichtert stiess er das Pferd zur Schneebrücke hinunter. Dieses lief ihm zu langsam, sodass er ihm die Sporen gab. Aus Schmerz setzte es zu einem gewaltigen Sprung an. Es landete mitten in der Schneebrücke. Unter der Wucht des Aufpralls brach sie ein. Reiter und Pferd stürzten durch das Schneeloch in den Areuabach.

Die schwere Rüstung drückte den Bösewicht, der immer noch nicht viel sehen konnte, unter Wasser, sodass er ertrank. Das Pferd erkämpfte sich das rettende Ufer und stieg wieder zum Ahornbaum hinauf und weiter zum rettenden Stall. Dort angelangt, öffnete ihm das Büblein die Türe, als es sah, dass der Ritter nicht zurückgekommen war. Der schwere Sattel hing dem guten Pferd halb zur Seite. Der Kleine zerrte am Bauchriemen, bis sich die Schnalle öffnete, sodass der schwere, reich verzierte Sattel zu Boden glitt. Ja, er gab sogar dem Tier von seinem spärlichen Mittagsbrot. Er trocknete das nasse Fell mit Heu. Dann warteten alle, bis das Gewitter abgezogen war. Kuh und Pferd folgten dem kleinen Helden heimwärts.

Als der Vater die drei kommen sah, ahnte er einen schrecklichen Unfall. Er sah wohl, dass der Rappen das Pferd des grimmigen Ritters sein musste. Er forschte, was passiert sei; doch der Kleine, der immer noch unter dem Schock der Blitze und Donnerschläge litt, antwortete mit weinerlicher Stimme immer nur: „Nimmen i weiss, nimmen i weiss“. – Sie gingen zusammen zum Richter ins Rathaus Nufenen, denn damals war Nufenen noch der Hauptort des Tales. Aber auch der Richter brachte nicht mehr aus dem Knaben heraus, als das „nimmen i weiss, nimmen i weiss“.

Die Männer des Dorfes suchten nun das Muntalawazza ab. Im Stall fanden sie den wertvollen Sattel des Ritters. Vom Ahornbaum aus sahen sie die eingebrochene Schneebrücke. Schliesslich fischten sie auch den Helm des Ritters aus dem Areuabach. Den Mann fanden sie nicht mehr. Das reissende Wasser hatte ihn wohl in den Hinterrhein und weiter abwärts gespült.

In der Gerichtsversammlung einige Tage später wurde das Pferd dem Schuhmacher zugesprochen. Da dieser kein Geld zur Bezahlung des Richters hatte, gab sich letzterer mit dem wertvollen Sattel zufrieden. Das tat dem Schuhmacher nicht weh, würde er doch das schöne Pferd nicht zum Reiten gebrauchen. Dieses liess denn auch einzig den Knaben auf seinen Rücken sitzen. Alle anderen warf es ziemlich unsanft ab. Die Leute aber im Dorf nannten das Muntalawazza hinfort Nimmeniweiss, und, weil dies schöner klang, bald eben Nimmeliweiss.